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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 20.11.2000
Aktenzeichen: 2 Ws 152/2000
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 359 Nr. 5 |
Je größer der Beweiswert des Erstgutachtens im Urteil war, desto eher ist das neue Gutachten zur Herbeiführung einer milderen Bestrafung oder eines Freispruchs geeignet.
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss
Geschäftsnummer: 2 Ws 152/2000 2 KLs 41 Js 24772/99 Aks 87/99 LG Ravensburg 7 KLs 23 Js 70690/96 Aks 10/97 LG Stuttgart 41 Js 24772/99 StA Ravensburg-WA 23 Js 70690/96 StA Stuttgart
vom 20. November 2000
in dem Wiederaufnahmeverfahren
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern,
Tenor:
1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 09. Juni 2000 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe:
A. Das Landgericht Stuttgart verurteilte am 07. Dezember 1998 den Antragsteller wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, nämlich seiner zur Tatzeit zwischen zehn und dreizehn Jahre alten Stieftochter S. L., in drei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren sechs Monaten. Die Strafkammer hatte den belastenden Aussagen der Geschädigten S. L. Glauben geschenkt, dem Bestreiten des Antragstellers dagegen nicht. Zur Frage der Glaubhaftigkeit der Aussagen von S. L. war das Landgericht Stuttgart von Frau Dr. X sachverständig beraten. Die Revision des Verurteilten blieb ohne Erfolg. Seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens hat das Landgericht Ravensburg mit Beschluss vom 09. Juni 2000 als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers. [...]
B. Das zulässige Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
[...] Der Verurteilte stützt seinen Antrag auf § 359 Nr. 5 StPO: Die Beibringung neuer Tatsachen und Beweismittel.
I.-III.
[...]
IV.
Zentral stützt der Verurteilte den Wiederaufnahmeantrag auf eine von ihm in Auftrag gegebene psychologische Stellungnahme der Gesellschaft für wissenschaftliche Gerichts- und Rechtspsychologie (GWG-Gutachten) über das im Verfahren gegen ihn erstellte schriftliche Gutachten der Sachverständigen Dr. X bezüglich der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin S. L.
Diese Stellungnahme zeige zahlreiche Mängel im Gutachten X auf. Es handle sich dabei um solch schwerwiegende Mängel, dass dieses Gutachten keine Basis für den Beleg realitätsbegründeter Schilderungen durch die Zeugin L. darstellen könne. Das Gericht habe somit zu Unrecht seine Beweiswürdigung auf dieses Gutachten gestützt.
In dem angefochtenen, den Antrag auf Wiederaufnahme verwerfenden Beschluss wird unter anderem ausgeführt, bei den (angeblichen) Mängeln im Gutachten der Sachverständigen X handle es sich nicht um neue. Tatsachen im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO. Anknüpfungstatsachen seien nach wie vor die ursprünglichen Angaben der Zeugin L. Dass sie inzwischen etwas anderes sage, sei nicht vorgetragen. Das GWG-Gutachten sei auch kein neues Beweismittel. Der herrschenden Rechtsprechung folgend sei ein/e weitere/r Sachverständige/r grundsätzlich kein neues Beweismittel, selbst wenn er/sie zu anderen Schlussfolgerungen und Bewertungen gelange. Schließlich fehle es dem GWG-Gutachten auch an der Eignung, eine Freisprechung (oder mildere Bestrafung) des Verurteilten herbeizuführen. Zu all dem wird auf die Begründung im angefochtenen Beschluss (II., A., Seite 9 - 14) Bezug genommen.
Das GWG-Gutachten kommt zu dem Ergebnis, das Gutachten der Sachverständigen X sei - formal und inhaltlich - in vielfacher Hinsicht fehlerhaft. Das GWG-Gutachten macht aber - seriöserweise - mangels eigener Befragung der Zeugin keine Aussage zum Ergebnis des Gutachtens der Sachverständigen X, also zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin L. Es werden somit (angebliche) Fehler aufgezeigt, ohne dass zwangsläufig der Schluss auf ein falsches Ergebnis gezogen werden kann oder gar muss.
Im Bereich von im weiteren Sinne auf Wertungen beruhenden Gutachten (z. B. Glaubwürdigkeits-, Glaubhaftigkeits-, psychiatrische Gutachten u. ä.) verhält es sich regelmäßig so, dass - anders als vielleicht im Bereich von technischmathematischen Gutachten - einzelne tatsächliche Fehler keine zwingenden Rückschlüsse auf das Endergebnis zulassen. Dieses kann falsch oder dennoch richtig sein.
In derartigen Fällen kann deshalb nach der Auffassung des Senats in einem Wiederaufnahmeverfahren nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung die Vorlage eines neuen Gutachtens mitsamt abweichendem Ergebnis verlangt werden. Denn um auf seriösem Weg überhaupt zu einem Ergebnis - sei es abweichend oder auch nicht - gelangen zu können, ist ja gerade erst eine erneute Exploration hier der Auskunftsperson erforderlich.
Nun kann jedoch ein solches "Gutachten über ein Gutachten" eine derartige Vielzahl von Fehlern oder Fehler von solchem Gewicht aufzeigen, dass sich Zweifel an der allgemeinen fachlichen Kompetenz des/der Erstgutachters/in aufdrängen. Dann erhöhen sich auch die Zweifel an der Richtigkeit des Endergebnisses. Je größer der Beweiswert des Erstgutachtens im jeweiligen Urteil war, desto eher ist dann angezeigt, in dem "Gutachten über das Gutachten" ein neues Beweismittel zu sehen, das auch zur Herbeiführung einer milderen Bestrafung oder eines Freispruchs geeignet ist.
Dabei wird nicht verkannt, dass Zweifel an der Richtigkeit eines Gutachtens grundsätzlich mit dem Rechtsmittel der Revision geltend zu machen sind. Es ist aber dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass in manchem Einzelfall eine fachgerechte Überprüfung eines Gutachtens innerhalb der zur Verfügung stehenden Fristen gar nicht möglich ist. Ein Gutachten mag für das erkennende und auch für das Revisionsgericht schlüssig und überzeugend klingen und kann doch für eine/n weitere/n Sachverständigen/in erkennbare Fehler enthalten.
Es ist also zu prüfen, ob das vom Verteidiger vorgelegte GWG-Gutachten tatsächlich Fehler im Erstgutachten aufdeckt und ob die (etwaigen) Fehler dann diejenige Qualität aufweisen, dass Rückschlüsse auf die allgemeine fachliche Kompetenz der Gutachterin X zu ziehen sind.
1. Im GWG-Gutachten werden zunächst formale Mängel des Gutachtens X behauptet.
Dazu ist vorab zu sagen, dass (etwaige) derartige Mängel wegen ihrer einfachen Erkennbarkeit in der Regel ausschließlich mit dem Rechtsmittel der Revision zu rügen sind.
Vorliegend ist auch eine Überprüfung des landgerichtlichen Urteils durch den Bundesgerichtshof erfolgt.
Die nunmehr nachträglich dargelegten (angeblichen) formalen Mängel betreffen u. a.:
- fehlende Ausführungen zur fachlichen Kompetenz der Gutachterin,
- fehlende Wiedergabe der aktenkundigen Einlassungen der Zeugin L. im Hinblick auf eine differenzierte Erörterung der Aussagenkompetenz,
- es sei nicht ersichtlich, wer die Gespräche mit der Zeugin L. geführt habe.
Zum einen stützt sich das Urteil des Landgerichts auf das in der Hauptverhandlung erstattete mündliche Gutachten der Sachverständigen X, weshalb es naheliegt, dass solche formale - wenn überhaupt - "Lücken" dort in der Befragung der Sachverständigen geschlossen wurden. Zum anderen mutet diese Art der Kritik mitunter überspitzt und herbeigeholt an. So ergibt sich beispielsweise aus dem Kontext auf den ersten Blick, dass - wer sonst? - die Sachverständige X die Befragung der Zeugin durchgeführt hat.
2. Das GWG-Gutachten behauptet methodische Mängel.
a) Zunächst geht es im Wesentlichen um die (angeblich) unvollständige oder teilweise ganz fehlende Darlegung verschiedener Ansatzpunkte, so der Konstanz- und Motivationsanalyse oder der Prüfung der Kompetenz der Zeugin bezüglich sexualbezogener Kenntnisse u. a. Teilweise handelt es sich insoweit um (Be-)Wertungen, z. B. ob die Motivationsanalyse tatsächlich (nur) "oberflächlich" dargestellt ist oder wie intensiv bei einer Frau, die im Erwachsenenalter früher erlebte sexuelle Übergriffe schildert, die Sexualkompetenz zu überprüfen ist. Im Übrigen ist wieder - und nicht zum letzten Mal - darauf hinzuweisen, dass dem Urteil das mündliche Gutachten der Sachverständigen zugrundeliegt.
b) Laut GWG-Gutachten fehle eine Bearbeitung der Hypothese zusätzlicher freier Erfindung (vgl. hierzu BGH-Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, StV 9/99, 473 ff. - 476 -).
Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist zu erkennen, dass durchaus zur Frage freier Erfindung Erwägungen angestellt wurden. Es ist festgestellt, dass die Gutachterin X für die Kammer überzeugend dargestellt hat, "die Aussage der Zeugin L. (habe) mit hoher Wahrscheinlichkeit einen realen Erlebnishintergrund" ...
Im Übrigen schließt das Urteil freie Erfindung vornehmlich mit weiteren, eigenen Erwägungen aus (Seite 12 f.), insbesondere aufgrund eigener Analyse der Angaben der Zeugin L. sowie ihrer mehrfachen, früheren (glaubhaften) Berichte von sexuellen Übergriffen durch den Verurteilten gegenüber Dritten.
c) Das GWG-Gutachten kritisiert besonders zwei der angewandten psychologischen Testverfahren ("10-Wünsche-Phantasiespiel nach Klosinski" und "Satzergänzungstest").
Nach den Ausführungen im Gutachten X dazu ist tatsächlich kaum nachvollziehbar, mit welchem Ziel gerade diese Untersuchungsverfahren eingesetzt wurden und wie daraus relevante Schlüsse bei der Begutachtung der Zeugin gezogen werden konnten.
Dies stellt aber - wenn überhaupt - eher einen formalen Mangel dar. Dass daraus etwa falsche Schlüsse gezogen worden sein könnten, ist nicht ersichtlich.
d) Es wird gerügt, dass eine Darstellung der Prüfung, wie eine hohe Resistenz der Zeugin auf suggestive Einflüsse festgestellt wurde, im schriftlichen Gutachten X fehle.
Dies trifft in vollem Umfang zu und erscheint nicht unproblematisch. Allerdings lässt sich aus den Urteilsgründen (...) der Schluss ziehen, dass die Sachverständige dazu in der Hauptverhandlung befragt wurde und differenzierte Ausführungen gemacht hat.
e) Weiter wird bemängelt, dass die Gutachterin X mehrfach - nach der Meinung der GWG-Gutachterin - unbewusst suggestive Vorhalte gemacht hat.
Dem ist darin zuzustimmen, dass an den im GWG-Gutachten zitierten Passagen (dort Seite 31 f.) die Verwendung inhaltsleerer Fragen nähergelegen hätte, aber zugleich entgegenzuhalten, dass in der Reaktion der Zeugin gerade dadurch auch eine gewisse Resistenz auf Suggestion erkennbar wurde.
f) Schließlich kritisiert das GWG-Gutachten in methodischer Hinsicht noch die Verwendung einer die Zeugin unterstützenden und trösten den Formulierung seitens der Gutachterin X ("es ist gut, wenn man jetzt mal durchschnaufen kann...", ... ).
Ein solcher Satz ist mit der Rolle der Gutachterin kaum zu vereinbaren und lässt sich nur aus der besonderen Dynamik einer solchen Exploration erklären. Derartige Formulierungen sollten fraglos unterbleiben.
3. Als nächstes wendet sich das GWG-Gutachten (angeblichen) sachlich inhaltlichen Fehlern im Gutachten X zu.
a) Die GWG-Gutachterin ist der Meinung, das strukturelle Kriterium der Nichtsteuerung der Aussage könne mangels ausreichenden Aussageumfangs nicht als erfüllt angesehen werden (...). Sie erkennt angesichts einer (nach ihrer Auffassung) durchaus detailreichen Schilderung des Randgeschehens im Kerngeschehen Detailarmut (...). Die Schilderung von Komplikationen erscheint ihr als eher pauschal (...).
In ähnlicher Weise bewertet sie ein Realitätskriterium (Realkennzeichen) nach dem anderen (...) in der Regel mit der Folge, dass die von der Gutachterin X gezogenen Schlüsse nicht überzeugend seien. Sie erwähnt allerdings auch selbst qualitativ hochrangige Realitätskriterien in der Aussage der Zeugin L., die für realitätsbegründetes Erleben sprechen (z. B. "Deliktstypik", "Selbstbelastung", "Individualität", ...).
Ein ausgefallenes Detail ("Originalität") wertet sie ihrerseits pauschal ab, ohne dabei auf das in der Schilderung dieses Details zugleich enthaltene Verflechtungsangebot (Realitätskriterium) einzugehen (...).
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass es sich hierbei letztlich um Wertungen über Wertungen handelt. Keinesfalls werden Fehler in der Inhaltsanalyse aufgezeigt.
b) - f) ... [Abhandlung der wesentlichen von der GWG-Gutachterin geltend gemachten Kritikpunkte.]
4. - 5. [...]
6. Nach alldem gelangt der Senat zu dem Ergebnis: Das vom Verteidiger vorgelegte GWG-Gutachten enthält im ganz überwiegenden Teil Wertungen und Bewertungen zum Gutachten X. Es deckt aber auch einige mehr, einige weniger gewichtige objektivierbare Mängel oder gar Fehler (z. B. suggestive Befragung, Verlassen der gutachterlichen Rolle, Definition Kern- und Randgeschehen) auf. Diese Fehler lassen - so auch das GWG-Gutachten - keinerlei Rückschlüsse auf das (End-)Ergebnis des Gutachtens X zu.
Diese Mängel haben keinesfalls ein solches Gewicht, dass Rückschlüsse auf die allgemeine oder gar auf eine nicht ausreichende fachliche Kompetenz der Sachverständigen X gezogen werden könnten.
Hinzu kommt, dass das Gutachten X ausweislich der Urteilsgründe für das Landgericht in seiner Überzeugungsbildung eindeutig lediglich von untergeordneter Bedeutung war.
Somit ist das GWG-Gutachten ... nicht im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO geeignet, in einem neuen Verfahren eine mildere Bestrafung oder einen Freispruch des Verurteilten herbeizuführen.
V. - VI.
[...]
VII.
Der Verurteilte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin S. L. im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
1. [...]
2. [...] Aus der Akte ergibt sich, dass die Nebenklage im Wiederaufnahmeverfahren gar nicht einbezogen worden ist. Dies hat der Senat nachgeholt. Denn nach zutreffender Meinung (vgl. Rieß in NStZ 1988, 15 ff.) leben die Nebenklagebefugnisse bereits mit dem Wiederaufnahmeantrag, also ohne entsprechenden Antrag und Entscheidung, wieder auf. Es ist der erkennbare Sinn der gesetzlichen Regelung in § 395 Abs. 1, 4, § 401 Abs. 1 StPO, der Nebenklage eine Einwirkungsmöglichkeit auf das gesamte gerichtliche Verfahren zu geben, solange eine solche sinnvoll möglich ist.
Die Nachholung der unterbliebenen Kostenentscheidung im angefochtenen Beschluss ist nicht zulässig (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 472 Rdnr. 10). Da die Nebenklägerin erst im Beschwerdeverfahren einbezogen worden ist, sind ihr bis dahin aber auch keine Kosten entstanden.
Wegen der Erfolglosigkeit seines Rechtsmittels hat der Verurteilte auch die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen (§ 472 StPO).
Ende der Entscheidung
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